Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen in der Sexualität
Ich bin seit langer Zeit auf der Suche nach dem Geheimrezept für eine glückliche Beziehung und gesunde Sexualität. Die Antwort ist definitiv nicht nur eine gut funktionierende Intimmuskulatur beider Partner. Technik ist wichtig, aber auch unsere Einstellung spielt eine bedeutende Rolle. Hier schildere ich zwei Extremfälle, wo Geben und Nehmen nicht im Gleichgewicht sind. Verzeiht mir bitte den direkter Ton, liebe Leser und Leserinnen. Eine große Portion an Selbstironie ist auch dabei!
Die landesspezifische Kultur und Erziehung formen diese Ansichten, danach „bestätigt“ sie die eigene Lebenserfahrung, da wir das anziehen und sehen, für was wir bewusst und unbewusst bereit sind. Schon vom Pygmalion-Effekt gehört? Vielleicht ist es bei Dir nicht so krass, aber einiges stimmt schon, oder?
Ich schreibe aus der Frauenperspektive, da ich selbst eine Frau bin und überwiegend mit Frauen beruflich unterwegs bin. Doch auch für Männer kann dieser Artikel interessant sein, denn er hilft dabei, Prozesse in der Beziehung zu verstehen und bewusst in Richtung Harmonie zu lenken.
Das Extremfall „Geben“ ist kulturbedingt oft bei Frauen aus dem russischsprachigen Raum vorhanden. Da bedeutet auch das Verb „geben“ Sex, den die Frau dem Mann gewährleistet, und das Verb „besitzen“ den Liebesakt aus der Männerperspektive. Es dreht sich alles um die Lust des Mannes, nicht ohne Erwartung einer materiellen oder emotionalen Gegenleistung. Die Frau sollte immer verfügbar sein, wenn der Mann das Bedürfnis spürt, einzudringen oder anders verwöhnt zu werden. Es ist verpönt, als Frau Initiative zu zeigen und eigene Bedürfnisse anzusprechen. Sogar wenn sie es tut, hat sie unbewusst ein schlechtes Gewissen, was wiederum unterbewusst einen Widerstand beim Mann erwecken kann. Die Blowjob-Seminare und IMbuilding-Trainings sind überwiegend voll von Frauen, die einen Mann von sich überzeugen wollen bzw. materielle Bedürfnisse auf diese Weise zu erfüllen versuchen. Dieses Verhaltensmuster wird von den „nehmenden“ Frauen als Prostitution eingestuft und sehr negativ bewertet. Der Orgasmus der Frau gilt in erster Linie als Bestätigung für den Mann und wird gerne und geschickt gefälscht, ohne zu bedenken, dass dadurch die gemeinsame Entwicklung und Erkundung verhindert wird. Der Mann fühlt sich großartig neben der Frau, die ihn sexuell begehrt, also wird leichter beeinflussbar.
Eine große Komplikation ist die Komfortzone: die Kultur einer „gebenden“ Frau hat mehrere Jahre das Thema der eigenen weiblichen Lust verschwiegen und verboten, daher kommt sie kaum selbst auf die Idee, diese zu entwickeln. Eine „Geberin“ kann mehr oder weniger bewusst Angst haben, wenn sie ihre eigene Sexualität entfaltet, wie eine Schlampe wahrgenommen zu werden oder dem Mann seine männliche dominante Rolle zu entziehen, was sich auf weitere Beziehungsbereiche ausbreiten könnte, zum Beispiel auf die Finanzen. Ich kann dir aber versichern, dass diese Angst unbegründet und die Entdeckung eigener Sexualität in der Tat eher wohltuend auf allen Ebenen des Miteinanders ist. Ich weiß, wovon ich rede.
Die Lösung ist unbedingt Selbstreflexion, gerne mit professioneller Hilfe eines Sexualtherapeuten oder einer Sexualtherapeutin (ich kann vom Herzen Elinor Petzold empfehlen), mehr Interesse zur eigenen Anatomie der Liebe und mehr Zeit für bewussten Genuss aller Sinne: Schmecken, Riechen, Hören, Sehen, Berühren! Gönn Dir gerne eine Yoni-Massage oder mehrere, wo Du ohne Leistungsdruck ausschließlich empfangen darfst. Und natürlich mehr wertschätzende Kommunikation auf allen Ebenen mit dem Partner ist hilfreich!
Das Extremfall „Nehmen“ ist ebenfalls kulturbedingt entstanden. Die neue Zeit bedeutet, dass die „bösen Männer“ nicht mehr über die Sexualität der Frau bestimmen sollten. Die befreite Frau darf und muss ihre Lust auf den ersten Platz stellen und womöglich ausleben und der Mann steht ihr dafür zur Verfügung. Auch die Propaganda der Verhütung hat dazu beigetragen. Im Marketing muss man Bedürfnisse erschaffen, um jeden Preis … Niemanden interessieren die Nebenwirkungen der Medikamente, der gesellschaftliche Einfluß der Promiskuität als Mode und die mögliche disadaptive Wirkung der Vibratoren auf Orgasmen beim klassischen Geschlechtsverkehr. In der westlichen Kultur wird kaum kritisch infrage gestellt, dass der Mann auf die weibliche Initiative wartet, um sie nicht zu belästigen, dass die Frau auf der Suche nach neuen Erfahrungen für One-Night-Stands offen ist und dass der Mann eventuell seinen Spaß opfert, um die Dame zum Höhepunkt zu bringen. Ja-ja, nicht viele sprechen darüber, aber wenn der Mann zu lange „überzieht“, kommt er irgendwann gar nicht zum Orgasmus und oops! muss sogar selbst schauspielern. Frühzeitige Ejakulation, mangelnde Libido und (Gott bewahre) Potenzprobleme werden als Egoismus eingestuft, was einen tollen Markt für die Potenzmittel erschafft. Sorry Ladiess, aber diese Einstellung entzieht tatsächlich die Männlichkeit. Außerdem kommt nicht selten folgendes vor: Der Mann darf ein @rschloch sein, sobald er die Lust der Frau gut befriedigt hat.
Die Komplikation ist hier das in Medien vermittelte, aus meiner Sicht übertriebene Bild einer „Frau, die weiß was sie will“. Wer hinterfragt doch das, was in der Kultur als Norm gezeigt wird? Männer wollen tatsächlich nur das Beste für uns und passen sich an, was der Frau das Gefühl gibt, dass sie richtig tickt.
Die Lösung wäre auch hier, sich mehr mit der Anatomie der Liebe zu beschäftigen und nicht-wertende Akzeptanz, emotionale Unterstützung sowie körperliche Fitness zu praktizieren. Verwöhnung in der spielerischen Form oder das Pilot-Spiel helfen dabei, das Gegenüber besser zu verstehen. Und selbstverständlich ist auch Kommunikation sehr wichtig. Immer! Wichtig ist allerdings beim Sex nicht mit der Kommunikation zu übertreiben, sonst fließt das ganze Blut zum Gehirn und nicht dahin, wo es gerade hingehört 😉
Als Intimfitness-Trainerin sehe ich oft den Interessenkonflikt zwischen den sowjetischen und westlichen Frauen, da wir kulturell bedingt unterschiedlich konditioniert sind. Ich habe eine lange Zeit auch so „typisch russisch“ dichotom getickt: wir sind gut, die anderen schlecht. Aber gerade dank der Unterschiede können wir viel voneinander lernen und gemeinsam profitieren. Die goldene Mitte ist am schönsten!
Make love, not war!
Alles sollte im Gleichgewicht sein und der Spaß beider Partner ist gleich viel wert. Auch die emotionale und strategische Ebene der Beziehung werden dadurch nur gestärkt. Versprochen!
Deine Anastasia